2019 wurde der deutsche Satiriker Nico Semsrott ins EU-Parlament gewählt. Die Erfahrungen, Erkenntnisse und Enttäuschungen seiner Amtszeit sind nun in dem Buch „Brüssel sehen und sterben“ im Rowohlt-Verlag erschienen. Vergangenen Sonntag sprach Semsrott am letzten Termin seiner Lesetour im Wiener Stadtsaal über Transparenz, Korruption und Pavianhügel.
Am Sonntagvormittag ist die Bühne des Stadtsaal in pink-rotes Licht getaucht, die Plätze gut gefüllt, wenn auch nicht ausverkauft. Auf die Bühne wird das Cover von „Brüssel sehen und sterben“ projiziert – Untertitel: „Wie ich im Europaparlament meinen Glauben an (fast) alles verloren habe“. Das Licht wird gedimmt, Nico Semsrott betritt in seinem klassischen schwarzen Kapuzenpulli die Bühne, das Publikum applaudiert. Im Sinne der Transparenz, eines seiner Kernthemen, stellt der Politiker, Satiriker und selbsternannte Demotivationstrainer eingangs direkt fest: Er hat das Buch weder geschrieben, noch gelesen. „Ich habe ein paar Hundert Seiten Notizen abgegeben und andere haben daraus ein Buch gemacht. Ich hoffe, es ist gut geworden.“
In den folgenden zwei Stunden liest Semsrott Passagen aus „Brüssel sehen und sterben“ und erzählt untermalt von einer „Peinlich-Politischen PowerPointPräsentation (PPPPP)“ von Buffets auf Lobby-Events, intransparenten Nebeneinkünften von EU-Parlamentarier:innen, einem Einbruch in Abgeordneten-Büros, experimenteller Selbstbereicherung durch Reisekostenerstattung und prangert die Probleme der freiwilligen Selbstkontrolle an. In der Pause können sich die Besucher:innen um 19 € ein Exemplar des Buches kaufen, signiert werden sie nicht. Dafür steht ein Stempel für ein DIY-Autogramm mit Smiley am Büchertisch.
„Wie die Bierpartei, nur deutsch“
So beschreibt ein Gast in der Sitzreihe hinter mir den deutschen Abgeordneten. Semsrott trat ab 2007 als depressive Kunstfigur auf Poetry Slams auf, ab 2014 tourte er mit seinem Soloprogramm „Freude ist nur ein Mangel an Information“ und war ab 2017 für zwei Jahre Teil der deutschen heute-show im ZDF – um bei Österreich-Vergleichen zu bleiben, das ist zirka so wie „Gute Nacht, Österreich“. Die deutsche Satirepartei Die PARTEI, für die Semsrott bei der EU-Wahl 2019 gemeinsam mit Martin Sonneborn kandidierte, erreichte in Deutschland 2,4 % der Stimmen, womit beide Kandidaten als Abgeordnete ins Parlament entsandt wurden. Dort trat Semsrott der Fraktion Grüne/EFA bei. 2021 trat Semsrott nach einer rassistischen Äußerung von Sonneborn aus der PARTEI aus.
Semsrott leidet unter Depressionen. Neben der humoristischen Auseinandersetzung mit Depressionen durch seine Kapuzenpulli-Kunstfigur spricht seine Erkrankung auch oft ernsthaft an. Um 2021 beschränkte er seine politische Tätigkeit aufgrund seiner Erkrankung auf die Anwesenheit bei Plenarsitzungen und brach mitunter aufgrund Corona-bedingter Komplikationen ambitionierte Projekte wie etwa die Nico-Semsrott-Show ab. „Da haben acht Leute einen Job für 80 Leute gemacht.“
Das Problem der freiwilligen Selbstkontrolle
Durchsetzt ist der Vortrag neben in seiner Satirikerkarriere langjährig erprobten Pavianhügel-Methapern auch mit interaktiven Abstimmungen: Zustimmung wird vom Publikum durch „Hmmm“ geäußert. „Würdet ihr gegen Regeln verstoßen, wenn sie niemand kontrolliert?“ – im Publikum ertönen ausgiebige Grübel-Geräusche. „Und genau das denken sich die Abgeordneten auch.“
Die Wurzel dieses Problems verortet Semsrott bei der konservativen politischen Führung Europas. Konservative Regierungsspitzen schlagen eine konservative EU-Kommission vor, die wiederum von einer konservativen Mehrheit im EU-Parlament abgesegnet wird. Die Verwaltung des EU-Parlaments liegt in konservativen Händen, die Opposition ist zu schwach. Auch die ÖVP, die FPÖ und die NEOS ordnet Semsrott explizit den angeprangerten Parteien bzw. Fraktionen zu. Semsrott nennt ein Beispiel: Progressive Kräfte verlangen Regeln für die Verwendung der Bürokostenpauschale (300.000 € pro Abgeordnete:r über fünf Jahre Amtszeit), Konservative sind gegen eine Kontrolle. Der Kompromiss: Regeln, die niemand kontrolliert. Die Probleme dieser „freiwilligen Selbstkontrolle“ erläutert er lebhaft am Beispiel der oben beschriebenen Abstimmung.
Ein weiteres Problem, das laut Semsrott auf Konservative zurückzuführen ist, sind die Nebeneinkünfte der Parlamentarier:innen. Mangelnden Einschränkungen und Transparenz für Nebentätigkeiten machen EU-Abgeordnete quasi zu „gewählten Lobbyist:innen“. Selbst wenn Regelungen zur Offenlegung existieren, müssen Abgeordnete oftmals lediglich an die (vom mehrheitlich konservativen Präsidium festgelegte) Parlamentsverwaltung unter Ausschluss der Öffentlichkeit berichten. So nennt er unter anderem beispielhaft den CDU-Abgeordneten Rainer Wieland, der neben seinem EU-Mandat auch privatwirtschaftlich als Rechtsanwalt aktiv ist, aber behauptet, keine einkommenssteuerpflichtigen Nebeneinkünfte zu haben.
In der Pause recherchiert Semsrott kurz zur diesbezüglichen Situation in Österreich. Die zweite Hälfte der Show beginnt mit einem Zitat aus dem FAQ von parlament.gv.at: „Ist Politiker:in eigentlich ein Hauptberuf oder ein Nebenberuf? […] Es gibt auch Mandatar:innen, die ihre parlamentarische Tätigkeit neben ihrem Hauptberuf ausüben. Unter den Abgeordneten finden sich etwa Landwirte bzw. Landwirtinnen, Unternehmer:innen, Rechtsanwälte bzw. Rechtsanwältinnen, Bürgermeister:innen …“ resigniert lachend bricht Semsrott sein Zitat ab.
Enttäuschende Anekdoten
Um Gerüchte zu überprüfen, laut denen sich einige CDU-Abgeordnete Urlaubsreisen vom EU-Parlament rückerstatten lassen, startete Semsrott einen Selbstversuch. Auch er bekam die Kosten für zwei dezidiert als privat betitelte Reisen rückerstattet. Als er diesen Umstand medial anprangerte, wurde er von der Parlamentsverwaltung aufgefordert, betreffendes Geld wieder zurückzuzahlen. Dies plant er nicht zu tun und legt sich seither Teile seines Gehalts für zukünftige allfällige Anwaltskosten zur Seite.
In der abschließenden Fragerunde nennt Semsrott als größte Enttäuschung seiner Amtszeit die „mutwillige Zerstörung unserer Lebensgrundlage“, die europäische Klimapolitik, die „traurigerweise trotzdem noch die beste Klimapolitik auf diesem Planeten“ ist.
Hoffnung (oder: „Ansatzpunkte“)
Auch wenn Semsrotts ausgiebige Kritik an der EU vielleicht anderes vermuten lässt – er ist prinzipiell für die Idee der EU. Er hält sie nur für „leider ziemlich schlecht umgesetzt“. In einem Podcast meint Semsrott, als EU-Abgeordneter träge er zwar Verantwortung für seine Wähler:innen, hätte aber keine Macht – ein Umstand, der sich auch auf seine psychische Gesundheit nicht förderlich auswirkt. Weitaus mehr Handlungsspielraum und Impact schreibt er seinem Bühnendasein zu, weswegen er bei der EU-Wahl 2024 nicht mehr kandidiert und stattdessen seine Karriere als Satiriker weiterführen will.
Abschließend richtet Semsrott einen Appell an das Publikum. Auf die Frage, was man den bei so einem kaputten System als Bürger:in noch machen könne, kommt die einfache Antwort: Wählen Gehen. Während Semsrott sich als Parlamentarier fünf Jahre lang der konservativen Mehrheit ausgeliefert sah, könnten Wähler:innen eben diese Mehrheit mit ihrer Stimme stürzen und das System EU verbessern. Mit Buch, Lesetour, und Videos hat Semsrott zum Ende seiner Mandatszeit eine „Mini-Antikorruptionskampagne“ gestartet. Sein deklariertes Ziel: „CDU – 1 %“.
Weiterführende Links
Nico Semsrott auf der Website des EU-Parlaments
YouTube-Video: Show zu „Brüssel sehen und sterben“ in Berlin
YouTube-Video: „Freude ist nur ein Mangel an Information, Best Of 2013–2017“ auf 3sat
Podcastfolge: Nico Semsrott zu Depressionen als Politiker