„Wir löschen die Brände, aber agieren nicht als EU“ – Podiumsdiskussion zu den Herausforderungen Europas

Podiumsdiskussion in der FH des BFI Wien zu den Herausforderungen Europas. Mit Michael Laczynski, Wolfgang Bogensberger, Nini Tsiklauri und Sylvia Kritzinger.

Am vergangenen Donnerstag, den 16. Mai, fand im Festsaal der Fachhochschule des BFI Wien eine Podiumsdiskussion statt. Gegenstand der Diskussion war die Frage, welche Voraussetzungen ein starkes Europa in Zeiten globaler und gesellschaftlicher Herausforderungen erfüllen muss. Die Diskussion moderierte Michael Laczynski, Redakteur der Zeitung „Die Presse“. Unter den geladenen Gästen befanden sich Wolfgang Bogensberger (Leiter der Vertretung der EU-Kommission in Österreich), Nini Tsiklauri (Autorin und EU-Aktivistin) sowie Sylvia Kritzinger (Staatswissenschaftlerin, Universität Wien). Evelyn Regner, die Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments, musste aus zeitlichen Gründen absagen, hinterließ jedoch eine Videobotschaft. Diese wurde im Anschluss an die Begrüßung und einer kurze Vorstellung dem Publikum präsentiert. 

Erfolge und Misserfolge der letzten Legislaturperiode

Die Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments und SPÖ-Kandidatin, Evelyn Regner, beantwortete zu Beginn der Diskussion per Video einige Fragen bezüglich der kommenden Europawahl. Für sie sind die zentralen Punkte eines funktionierenden Europas eine gerechte Steuerpolitik, europäische Wohnbauinitiativen sowie das Stärken der Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Als Strategie gegen nationalpopulistische Parteien schlug Regner vor, Regionalförderungen sichtbar zu investieren. Wenn die Menschen in Europa sähen, was mit den Geldern passiere, sei die Zufriedenheit mit der Politik größer. Generell gab sie sich sehr zuversichtlich und pro-europäisch und betonte die Wichtigkeit von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit für Europa. Denn eine positive Entwicklung Europas wirke sich auch auf Österreich aus.

Als Erfolge der letzten Legislaturperiode nennt sie das schnelle Reagieren auf Krisen, insbesondere den Wiederaufbau der Wirtschaft nach der Corona-Pandemie. Zudem kritisiert sie, dass ökologische Aspekte bei politischen Entscheidungen nicht ausreichend berücksichtigt wurden, beispielsweise im Kontext des Green Deals. Sie hofft, dass dies in der nächsten Legislaturperiode nachgeholt wird. Auch die anderen Gäste äußerten sich zu den Erfolgen und Misserfolgen. Wolfgang Bogensberger bezeichnete die vergangene Legislaturperiode als sehr fordernd und krisenreich. Er betonte jedoch, dass sich die EU insgesamt beachtlich bei dem Umgang mit diesen Krisen (Brexit, Corona, Ukraine-Krieg) geschlagen habe. Er wies darauf hin, dass der Green Deal zu etwa 90 % erreicht sei und Regner ihn demnach zu sehr kritisiert hatte.

„Europa muss auf den Zug aufspringen, sonst werden wir überholt“

Bogensberger unterstrich die Größe Europas und den damit verbundenen Stellenwert weltweit. In der Vergangenheit habe sich Europa häufig auf andere Mächte verlassen, beispielsweise auf Russland bezüglich der Energieversorgung. Damit Europa global eine wichtige Rolle spielen könne, müsse eine massive Umorientierung hin zur Unabhängigkeit stattfinden. Es sei von entscheidender Bedeutung, dass die EU einheitlich und nicht nationalstaatlich handle. Auch Nini Tsiklauri thematisierte die notwendige Anpassung Europas an die aktuellen Gegebenheiten und Herausforderungen. Es sei erforderlich, schnell und effektiv zu handeln. Entscheidungen würden jedoch immer wieder durch Persönlichkeiten wie Viktor Orbán gebremst werden. Der aktuelle Rechtsruck entstehe aus Unzufriedenheiten mit dem System, weshalb schnellstmöglich Veränderung her müsse, um Ängsten und Sorgen entgegenzuwirken. Als Vorschlag brachte Tsiklauri transnationale Listen in den Fokus. Sie plädierte dafür, bei der kommenden Wahl eine europäische Lösung statt einer nationalen zu priorisieren. 

Die DNA der EU

Laut Bogensberger seien die Werte Europas so gefestigt, dass sie nicht zur Debatte stehen. Es dürfe keinen Kompromiss bei Menschenrechten oder Rechtsstaatlichkeit geben, was von Ländern wie Polen und Ungarn zu akzeptieren sei. Erst 2022 hat der Europäische Gerichtshof eine Klage der beiden Länder abgelehnt. Durch den Konditionalitätsmechanismus, der einen sorgfältigen Umgang mit Steuergeldern voraussetzt, kann EU-Mitgliedstaaten Geld vorenthalten werden, die gegen rechtsstaatliche Prinzipien verstoßen. Europa habe demnach eine Entscheidung für die eigenen Werte getroffen. Die EU habe einen Rahmen geschaffen, um Fehlentwicklungen entgegenzuwirken. Im Fall von Polen wurde kein irreparabler Schaden angerichtet, stattdessen würden aktuell durch Hilfestellungen seitens der EU die richtigen Wege eingeschlagen werden. Bogensberger bezeichnet die EU selbst als „gemeinsames europäisches Spaßwerk“. 

Tiflis und das Begehren nach Europa 

Der Moderator Laczynski thematisierte geopolitische Herausforderungen der EU. Daraufhin spannte Tsiklauri den Bogen zu Georgien, um auf die Bedeutung von Europa für Nicht-EU-Mitgliedstaaten hinzuweisen. Als Hintergrundinformation sei angeführt, dass seit einigen Tagen Zehntausende Menschen in der georgischen Hauptstadt Tiflis gegen das am 14.05. verabschiedete Gesetz zur „ausländischen Einflussnahme“ demonstrieren. Die Gesetzesänderung sieht vor, dass in Zukunft Organisationen und Medien, die zu mindestens 20 Prozent aus dem Ausland finanziert werden, als „ausländische Propaganda” registriert werden müssen. Dabei ist insbesondere die Ähnlichkeit zu russischen Gesetzen auffällig, weshalb seit Wochen die georgische Bevölkerung auf die Straße geht. Georgien war seit Dezember offizieller EU-Beitrittskandidat, was zum aktuellen Zeitpunkt jedoch undenkbar ist. Tsiklauri gehe davon aus, dass die Menschen solange auf die Straße gehen werden, bis die georgische Regierung abgesetzt ist. Des Weiteren sei bemerkenswert, dass die pro-russischen Tendenz der Regierungen sogar Menschen aus Moskau dazu motivierte, für die Proteste anzureisen. Die Europäische Union würde von ihren Bürger*innen häufig als selbstverständlich wahrgenommen werden, während sie für Länder wie die Ukraine oder Georgien einen Hoffnungsschimmer darstelle, ein Leben in Freiheit führen zu können. Laczynski meinte daraufhin „man kann sich dieses Begehren nach Europa nicht mehr vorstellen“, welches Nicht-Mitgliedsstaaten verspüren. 

Prognose zur Wahlbeteiligung

Die Erwartungen an die Wahlbeteiligung bei den Europawahlen sind laut Umfragen nahezu identisch mit denen der Europawahl 2019, so Sylvia Kritzinger. Rund 50 % der Befragten gaben an, sich für die Europawahl zu interessieren. Allerdings seien sich lediglich 7–8 % sicher, wählen zu gehen. 40 % antworteten mit „wahrscheinlich” und wurden somit zu den Wählenden hinzugezählt. Daher sei es von entscheidender Bedeutung, Mobilitätskampagnen zu starten, um Menschen zum Wählen zu motivieren.

Darum geht es bei der kommenden Wahl:

Auf die Frage, ob es bei der Europawahl um Europa ginge, antwortete Kritzinger, dass EU-Wahlen häufig dazu verwendet werden, um über nationale Themen abzustimmen. Oftmals gehe es weniger um europäische Werte, sondern darum, für wen man ohnehin abgestimmt hätte. Ein besonderer Fokus auf Europa sei bei der Wahl nicht vorgesehen. Demnach sei das Spitzenkandidat*innen System „grandios gescheitert“.

Bogensberger antwortete auf die Frage, wie die EU damit umgehe, dass der prodemokratische Block im Parlament voraussichtlich immer kleiner werden würde, damit, dass Prognosen in diesem Zusammenhang wenig aussagekräftig seien. Das EU-Parlament bestehe zu etwa zwei Dritteln aus europakonstruktiven Parteien. Daher mache er sich keine Sorgen, dass die Findung von Mehrheiten in der nächsten Periode deutlich schwieriger werden würde. Des Weiteren wies er darauf hin, dass populistische Parteien häufig keine gemeinsame europäische Stimme finden, sondern stattdessen ausschließlich das eigene Land im Fokus stehe. Zu Regners Vorschlag, Förderungen sichtbar zu investieren, um nationalpopulistischen Parteien entgegenzutreten, meinte Kritzinger nur kurz, dass dies viel komplexer sei. Es ließe sich grundsätzlich erkennen, dass vor allem jüngere und besser gebildete Menschen pro Europa eingestellt seien, während für einen EU-Austritt besonders die Wählenden einer bestimmten österreichischen Partei stehen. Die betreffende Partei hatte sie zwar nicht genannt, jedoch schien es, als hätten alle im Publikum den gleichen Gedanken gehabt.